Adventskalender am 15. Dezember
SEHT AUF .. UND ERHEBT EURE HÄUPTER!
Meine Frau und ich haben uns vor ein paar Jahren in der Adventszeit einer ganz besonderen Herausforderung gestellt. Während andere Menschen für Mutproben einen Bungee-Jump buchen, sich zum Dschungelcamp anmelden oder einen Marathon laufen, sind auch wir an unsere ganz persönlichen Grenzen gegangen: Wir haben uns in einem evangelischen Kloster zu einem Schweigewochenende angemeldet.
Geglaubt hat uns das keiner, und da es auch kein Zertifikat gab, ringen wir heute noch um Glaubwürdigkeit, wenn wir davon erzählen. Und um ganz ehrlich zu sein: Wir haben auch nicht das gesamte Wochenende geschwiegen. Es gab immer nur Einheiten, in denen nicht gesprochen wurde, und während der wortlosen Essenszeiten tauschten wir mithilfe der servierten Rohkost geheime Botschaften auf unseren Tellern aus.
Eine Übung während der meditativen Einheiten hat mich ganz besonders bewegt. Die anleitende Klosterschwester las uns Lukas 21,28 vor: „Seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht.“
Mit diesem Satz im Herzen hatten wir nun die Aufgabe, uns Kronen auf unseren Häuptern vorzustellen, die wir als Königskinder trugen. Im Hintergrund lief leise Musik und wir gingen mit unseren imaginären Kronen auf dem Kopf durch den Raum. Aber Achtung! Leicht war das nicht! Im Gegenteil: Es war richtig schwer, die richtige Haltung einzunehmen – damit die Krone auch ja nicht verrutschte und vom Kopf fiel. Doch es war erstaunlich, wie das Wissen um die königlich-würdevolle Auszeichnung auf unserem Kopf doch plötzlich unsere Haltung veränderte. Das erinnert mich an den Spruch auf einer Postkarte, die ich einmal geschenkt bekommen habe: „Hinfallen, aufstehen, Krone richten, weitergehen …“
Ja, das macht Königskinder aus. Wir Menschen dürfen hinfallen, aber wir bleiben Königskinder und brauchen keine Angst davor zu haben, ausgeschlossen zu werden. Wenn Jesus im Neuen Testament von Buße spricht, dann steht im Griechischen Original das Wort metanoia, von meta – „um“ oder „nach“ – und noein – „denken“ –, wörtlich übersetzt also etwa „Umdenken, Sinnesänderung, Umkehr des Denkens“.
Aber auch in dem Sinne, dass man etwas auf einer höheren Ebene betrachtet. „Denkt höher von Gott!“, ruft Jesus den Menschen also zu, wenn er zur Umkehr aufruft. Irenäus von Lyon hat bereits im Jahr 120 nach Christus einen sehr bedeutenden Satz gesagt: „Die Herrlichkeit Gottes ist der aufrecht gehende (der nach oben blickende) Mensch.“
Es ist ein großes Lebensgeschenk, wenn wir uns von Gott aufrichten und unsere Würde zusprechen lassen. Jesus ist eben nicht in diese Welt gekommen, um uns hinzurichten, sondern um uns aufzurichten. So macht uns der Heiland heil. Aufgerichtet darf ein Mensch dann auch aufrecht und aufrichtig durchs Leben gehen.
Vor einigen Jahren tourte ich mit meinem Programm „Heimat“ durchs Land. In diesem Programm gebe ich den Konzertbesuchern einen kleinen Einblick in meine persönliche Biografie, zu der auch meine etwas spannende Schulzeit voller Streiche und interessanter Lehrerbegegnungen gehört. Fast nach jedem Konzert, bei dem ich dieses Programm spielte, kamen Mütter mit jugendlichen Kindern auf mich zu und bedankten sich, dass ich ihnen mit diesem Einblick Mut für ihr eigenes Muttersein gemacht hätte.
Vor Kurzem sprach mich eine Mutter nach einem Konzert an und erzählte, wie diese biografischen Einblicke vor einigen Jahren ihr schwieriges Verhältnis zu ihrem Sohn verändert hatten. Sie war sich sicher, wenn aus mir etwas einigermaßen Vernünftiges geworden war, dann würde ihr Sohn vielleicht auch irgendwann einmal seinen Weg gehen. Die Erkenntnis brachte sie zum Umdenken, und sie beschloss, ab diesem Tag jetzt schon das Gute und Schöne aus ihrem Sohn „herauszulieben“ und sich nicht immer nur auf die Probleme und Schwierigkeiten zu konzentrieren. Bewegt erzählte sie mir, dass diese Entscheidung nicht nur das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn maßgeblich beeinflusste, sondern auch die gesunde Entwicklung des Jugendlichen in der Schule und in seinen Freundeskreisen.
Gestehen wir uns und anderen auch die Veränderung zum Guten zu? Halten wir unsere Mitmenschen durch unsere Festlegungen und Aussagen über sie gewissermaßen in Ketten? Oder befreien wir die Menschen um uns herum, indem wir das Gute in ihnen „herauslieben“ und sie zum aufrechten, mutigen und mündigen Leben befähigen?
Andi Weiss
Entnommen aus dem Adventskalenderbuch 2020
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