Glaube am Tiefpunkt

Auszug aus einer Missio-Camp Predigt von Dorothea Bronsema

Sie haben so eine wundervolle Zeit miteinander verbracht. Die Erlebnisse haben sie zusammengeschweißt. Wunder, Berufungsgeschichten, Zeit am Lagerfeuer. Geteiltes Leben. Neue Gedanken für Kopf und Herz. Es war so eine richtig gute Gemeinschaft.
Weißt du, was ich meine?

Ja, wahrscheinlich hast du auf dem Missio-Camp eine Ahnung davon bekommen. Einer für alle … – gemeinsam leben, reden unter dem Sternenhimmel über Gott und die Welt. Angenommen sein. Lebensfragen stellen. Gemeinsam essen, spielen und lachen.
Ich glaube, die Jünger von Jesus hätten gesagt: das war unsere Missio-Camp-Zeit. Jesus unter uns. Wir sind so sehr berührt worden von ihm. Wir haben gesehen, dass er Menschen geheilt hat, Menschen satt gemacht hat von innen und von außen.
Er ist aufgestanden gegen soziale Ungerechtigkeit. Er hat uns gelehrt, hat uns geholfen, Gott den Vater im Himmel besser zu verstehen. Es war so, so wohltuend und gut. Wir wollten für immer dieses Missio-Camp mit ihm leben.
Und dann fing er an, von seinem Sterben zu reden.

Ganz ehrlich, wer will das denn hören? Mit wem hast du über deinen möglichen Tod gesprochen? Da winkt doch jeder ab und sagt: Sorry, aber das will ich mit dir jetzt nicht besprechen. Das sparen wir doch lieber aus, oder? Wir verdrängen das gerne.
Ich möchte euch zum Schluss des Missio-Camps überhaupt kein bisschen die Laune verderben, aber ich möchte mit euch über den absoluten Tiefpunkt sprechen. Über den Tiefpunkt im Leben von Jesus.
Wir reden nicht gerne über Tiefpunkte, oder? Wir erzählen lieber die Wunder, teilen das Schöne, verstecken die Tränen und die Not.
Auch unter Christen erlebe ich eine Tendenz des „Schön – redens“. Und des Schweigens über Tiefpunkte. Als müssten wir uns schämen für die Tiefpunkte. Als müssten wir sie verstecken und kaschieren.

 

Ich behaupte, dass auch unser Glaubensleben nicht nur von Höhen geprägt ist, von Wundern und gottesnahen Momenten. Wenn wir ehrlich werden, kennen wir sie sehr gut, die Tiefpunkte. Die Momente, in denen die Antwort Gottes ausbleibt oder anders ausfällt, als wir es uns wünschen. Die Momente, in denen wir die Luft anhalten, weil all das Leid der Welt uns den Atem stocken lässt.
Ich bin so unendlich dankbar für den Kar-Freitag; den Tag, an dem sich Gott mit unseren Tiefpunkten für immer verbunden hat, solidarisiert hat, sich auf unsere Ebene begeben hat, komplett mit seinem ganzen Leben.
Und ich möchte eintauchen in diesen Tag mit euch.

Und als sie ihn verspottet hatten, zogen sie ihm den Mantel aus und zogen ihm seine Kleider an und führten ihn ab, um ihn zu kreuzigen. Und als sie hinausgingen, fanden sie einen Menschen aus Kyrene mit Namen Simon; den zwangen sie, dass er ihm sein Kreuz trug.
Und als sie an die Stätte kamen mit Namen Golgatha, das heißt: Schädelstätte, gaben sie ihm Wein zu trinken mit Galle vermischt; und da er’s schmeckte, wollte er nicht trinken. Als sie ihn aber gekreuzigt hatten, verteilten sie seine Kleider und warfen das Los darum. Und sie saßen da und bewachten ihn. Und oben über sein Haupt setzten sie eine Aufschrift mit der Ursache seines Todes: Dies ist Jesus, der Juden König.
Da wurden zwei Räuber mit ihm gekreuzigt, einer zur Rechten und einer zur Linken.
Die aber vorübergingen, lästerten ihn und schüttelten ihre Köpfe und sprachen: Der du den Tempel abbrichst und baust ihn auf in drei Tagen, hilf dir selber, wenn du Gottes Sohn bist, und steig herab vom Kreuz! Desgleichen spotteten auch die Hohenpriester mit den Schriftgelehrten und Ältesten und sprachen: Andern hat er geholfen und kann sich selber nicht helfen. Er ist der König von Israel, er steige nun herab vom Kreuz. Dann wollen wir an ihn glauben. Er hat Gott vertraut; der erlöse ihn nun, wenn er Gefallen an ihm hat; denn er hat gesagt: Ich bin Gottes Sohn. Desgleichen schmähten ihn auch die Räuber, die mit ihm gekreuzigt waren.
Von der sechsten Stunde an kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde. Und um die neunte Stunde schrie Jesus laut: Eli, Eli, lama asabtani? Das heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Einige aber, die da standen, als sie das hörten, sprachen sie: Der ruft nach Elia. Und sogleich lief einer von ihnen, nahm einen Schwamm und füllte ihn mit Essig und steckte ihn auf ein Rohr und gab ihm zu trinken. Die andern aber sprachen: Halt, lasst uns sehen, ob Elia komme und ihm helfe!
Aber Jesus schrie abermals laut und verschied. Und siehe, der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stücke von oben an bis unten aus.

Jesu Kreuzigung und Tod (Matthäus 27,31-51)

Gott am Tiefpunkt

Die Beschreibung der Kreuzigung ist gruselig. Sie ist entwürdigend. Voller Blut und Scham. Es ist der Horror. Das will keiner sehen, keiner hören. Ich denke an die Bilder des Massakers in Israel, die vielen Kriegsbilder, die wir in den letzten Jahren gesehen haben. Ich denke an missbrauchte Frauen und Kinder. An Menschen, die in der Schule gemobbt und bloßgestellt wurden und werden, die jeden Tag aufs Neue ihre ganz persönlicher Hölle durchleben. An Menschen, die innerlich und äußerlich fast zerbrechen vor Schmerz.
Ich habe mich oft gefragt: Warum diese Grausamkeiten? Warum ging das an Jesus nicht vorbei? Er ist Gottes Sohn. Hätte Gott nicht einen anderen Weg finden können?
Ich bin überzeugt: HÄTTE ER. Er hätte auch einen anderen Weg finden können. Er ist Gott.
Aber er ist diesen Weg durch all das irdische Leid gegangen. Durch diese abgrundtiefe Ungerechtigkeit. Ohne Anwalt, ohne Verteidiger. Er ist nicht abgehauen und ausgewichen.

Gott hat sich verbunden. Sein Sohn hat sich verbunden mit all dem Leid, das diese Welt jemals erleben würde. Leid, dass nicht auszuhalten ist. Scherben, die nicht wieder gekittet werden können. Ohnmacht statt Wunder.
Ich glaube, er hat es getan, weil er sich mit uns verbinden wollte. Mit all unserem Schmerz, all der Ungerechtigkeit auf dieser Welt. Er ist nicht in seinem Palast beim Vater im Himmel geblieben. Er ist durch den Schmerz gelaufen bis zum Tod.

Kar-Freitag ist der Tag, an dem Jesus sich mit all unseren Tiefpunkten verbunden hat.

Mit unseren Schmerzen.
Mit unserem Leid.
Mit unserer Not.
Mit unserer Scham.
Mit unserem Scheitern und Zerbrechen.
Mit unseren Fehlern.

Warum? Um uns genau am Tiefpunkt nahe zu sein.
Das Kreuz ist Nähe Gottes am Tiefpunkt. Nähe Gottes im Scherbenhaufen. Nähe Gottes im Zerbrechen. Nähe Gottes im freien Fall, in der absoluten Katastrophe.

Mein Schwiegervater hatte am Ende seines Lebens immer wieder starke Schmerzen. Es gab eine OP am offenen Herzen. Der Oberkörper wurde einmal komplett aufgeschnitten. Ich habe ihm ein kleines Holzkreuz gebracht. Eines, das genau in seine Hand passte. Und ich habe ihm gesagt: Halte dich fest in deinem Schmerz und er hält dich in deinem Schmerz.
Das Kreuz ist der Ort, an dem Gott unsere Schmerzen aus-hält. Mit uns aushält.

 

Und ich möchte dich heute fragen: Was ist dein persönlicher Tiefpunkt? Was ist die Not, die dein Leben belastet? Was sind die Scherben, die du einfach nicht geklebt bekommst? Was sind die Schmerzen deines Lebens? Was ist die Story, die du keinem erzählen willst, weil du glaubst: Das will doch keiner mit mir aushalten…
Jesus möchte dir nahe kommen. Er versteht. Komplett.

Bevor Jesus stirbt sagt er diesen einen Satz:

MEIN GOTT, MEIN GOTT, WARUM HAST DU MICH VERLASSEN …

Versteht ihr? Der Sohn Gottes erlebt, dass sein Vater im Himmel für ihn nicht greifbar ist. Wir lesen die Geschichte ja immer vom Ende her. Ja, Gott macht alles gut, Auferstehung nach drei Tagen. Halleluja. Amen.

Jesus war in diesem Moment ganz Mensch, ganz verloren, ganz gebrochen. Das Ende ist noch offen. Und er spricht das aus, was er fühlt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?

Wie muss es sein Herz zerrissen haben. Diese Urverbindung, die der Sohn zum Vater hatte, war zerbrochen. Kein Anschluss, keine Hilfe.
Wie muss es das Herz Gottes des Vaters zerrissen haben. Sein Sohn verblutet – genagelt an ein Kreuz. Der Moment der Gottesferne.

Die große Frage, die du vielleicht auch manchmal hast:

Wo bist du?

Die Zweifel, ob er da ist – ob dieser Gott gut sein kann? Die Fragen, auf die es keine Antwort gibt.

 

Ich habe vor einem Jahr mit einem Podcast begonnen. Ich habe mich auf die Suche nach Menschen gemacht, die ehrlich aus ihrem Leben erzählen. Die ihre Tiefpunkte teilen. Die den Goldrand ihres Lebens teilen. Und das sind Menschen, die durch tiefe, tiefe Täler gelaufen sind. Ich wollte wissen: Wo war Gott am Tiefpunkt? Wollte fragen: Was trägt, wenn alles zusammenfällt?

So redete ich mit einer Mama, die ihr einjähriges Kind zu Grabe getragen hat. Ich sprach mit der Freundin, deren Ehe und ihr ganzes Leben zerbrach, sprach mit einem Pastor, der zusammenbrach und nicht mehr weiter konnte, sprach mit dem Vater von 6 Kindern, der in Israel schreckliches gesehen hat….

 

Und wisst ihr was? Das sind nur Bruchstücke, das ist das Leben. Das echte Leben. Die Katastrophen bleiben nicht aus. Und wenn dir irgendjemand erzählt, dass du, wenn du nur genügend glaubst und betest, keine Tiefpunkte und Not erleben wirst, sage ich dir, dass das eine fromme Lüge ist. Wir werden kein leidfreies Leben erleben.

Jesus selbst hat gesagt:

"In der Welt, da habt ihr Angst."

Sie treffen uns: die Katastrophen des Lebens. Manchmal ganz unverhofft. Wie eine Bombe, die alles in Stücke schlägt. Tiefpunktfreitage in unserem Leben. Gebrochenes Leben. Es ist schrecklich und zeigt uns, dass wir nicht im Paradies leben. Es passt nicht in die schillernde Instagramwelt.

Und Jesus erlebt all das. Im Vers 45 heißt es: Es kam Dunkelheit über das ganze Land, Finsternis und Jesus schrie …

Im Lukasevangelium sagt Jesus noch einen Satz, der für mich ein Schlüssel im Karfreitagsgeschehen ist. In aller Verlassenheit, in der Frage, wo ist Gott, redet er aber doch weiter mit ihm und sagt, bevor er stirbt:

„In deine Hände befehle ich meinen Geist.“

Ja, du bist nicht da. Ja, ich weiß nicht genau, ob du mich hörst. In mir ist es finster. Ich fühle mich unendlich verlassen. Aber das, was ich jetzt noch habe, befehle ich in deine Hände – meinen Geist. Diese Urverbindung Jesu mit seinem Vater ist noch da, obwohl er sich von ihm verlassen fühlt.

Was hilft am Tiefpunkt?

Ich glaube, der Tiefpunkt zeigt uns oft, dass da plötzlich nichts mehr ist. All das, was wir uns vielleicht aufgebaut hatten, alle Sicherheiten im Leben, sie sind weggebrochen. Das ist nicht schönzureden. Das ist nicht zu kitten mit einem schnellen frommen Spruch oder einer Bibelstelle, die vielleicht wie eine Ohrfeige wirkt.

Ich glaube, am Tiefpunkt brauchen wir die Kraft auszuhalten. Und wir dürfen wissen: Jesus kennt ihn, diesen Tiefpunkt. Er kennt Gottverlassenheit. Er kennt sterben müssen, Schmerzen haben.

Am Tiefpunkt des Lebens dürfen wir schreien und klagen. Wir dürfen sagen: Ich lege mich jetzt einfach in deine Hand Jesus. Ich liege hier und weine, halte aus, hoffe, dass du mich jetzt hältst und durchbringst.

Danach starb Jesus und der Vorhang des Tempels zerriss …

Warum zerriss dieser Vorhang in diesem Moment? Ich glaube: er ist ein Bild der Nähe Gottes. Von Anfang an war da immer wieder Distanz zu Gott. Rausgeflogen aus dem Paradies – draußen bleiben. Im Tempel gab es das Allerheiligste. Dort durften sich nur die Priester aufhalten – draußen bleiben.

An Kar-Freitag, am Tiefpunkt, hat Gott das Draußen-Bleiben-Schild zerstört. Der zerrissene Vorhang sagt: Ich bin da – ganz nah, am Tiefpunkt deines Lebens. Es mag sein, dass du das nicht fühlst, aber ich bin da. Es gibt kein Draußen-Bleiben-Schild mehr. Der Vorhang ist zerrissen. Du kannst kommen. Ich bin da.

Nähe Gottes immer.
Nähe Gottes im Todestal und auf den Festplätzen des Lebens.
Nähe Gottes im Schuldigwerden.
Nähe Gottes im Zerbruch.
Nähe Gottes:
Der Vorhang ist zerrissen - du musst nicht mehr draußen bleiben.

Dorothea Bronsema

Freiberufliche Theologin und Referentin, Wortliebhaberin, Autorin, Bloggerin und Podcasterin, Gottsucherin im Alltag

Sie lebt mit ihrer Familie in Nordhessen.

www.dorotheabronsema.de